»Klatschen gehen?«
Im Fall von David, Leon und Sven beschleicht mich ebenfalls das Gefühl, nicht hinter die Kulissen blicken zu können. David hat es zu Hause gut angetroffen, verfügt über einen Schulabschluss und befindet sich in einer Ausbildung zum Druck- und Medientechniker. Er wohnt mit seiner Schwester zusammen und ist zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung, die gegen ihn wegen gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung gefuhrt wird, fast zwanzig Jahre alt. Seine strafrechtliche Vorgeschichte beschränkt sich auf einige Graffiti-Schmierereien. Die Entwicklungsgänge des 18-jährigen Leon und des 19-jährigen Sven stellen sich nahezu deckungsgleich dar.
Im Sommer 2009 kommt es in den frühen Morgenstunden zu einer Begegnung zweier jeweils leicht unter Drogen stehender Gruppen. Zur einen Gruppe gehören David, Sven und Leon. Es werden im Vorbeigehen wechselseitige Beleidigungen ausgetauscht. Eigentlich ist die Sache schon beendet, als David auf die Idee kommt, die andere Gruppe zu verfolgen und zu attackieren. Zu diesem Zweck geht er extra in seine Wohnung, um seinen Schlagring zu holen, dann sucht man gemeinsam die andere Gruppe. An einem U-Bahn-Eingang findet sich ein junger Mann, der zwar zuvor tatsächlich Teil der „gegnerischen" Gruppierung war - sicher sind sich David, Leon und Sven dessen allerdings nicht. Irgendwie kommt es darauf jetzt aber auch nicht mehr an: Einer muss „bestraft" werden. Leon und Sven maskieren sich vorsichtshalber, indem sie sich Tücher vor Mund und Nase binden. Sodann schlägt David ohne Vorankündigung dem Opfer mit der Faust in das Gesicht, nachdem er den Schlagring über die Finger gestreift hat, während Leon und Sven die Tat durch ihre körperliche Präsenz unterstützen. Dem Misshandelten gelingt es, sich in einen Asia-Imbiss zu flüchten. Dortige Mitarbeiter verhindern, dass die Täter ihr Opfer in den Imbiss verfolgen. Aus Ärger hierüber erhält eine weitere männliche Person vor dem Imbiss einen Schlag mit einer leeren Bierflasche, die Leon oder Chris vom Boden aufgehoben hatten, ohne dass damit eine erhebliche Verletzung hervorgerufen wird. Dann ziehen die Beteiligten ab. Das Gericht verurteilt David als Hauptakteur zu einem vierwöchigen, Leon und Sven jeweils zu einem zweiwöchigen Dauerarrest. Außerdem soll eine finanzielle Wiedergutmachung an die beiden Geschädigten erfolgen. Ihre Höhe hat eher symbolhaften Charakter.
Die Verurteilten waren zum Zeitpunkt ihrer Festnahme nicht stark verhaltensauffallig, sodass sie nicht auf einen eventuell vorangegangenen Drogenkonsum untersucht wurden.
Drogen stellen dennoch ein Hauptproblem dar, denn speziell die jungen Männer, mit denen ich mich außerhalb des Gerichts und im Übrigen auch außerhalb Berlins über die zunehmende Brutalisierung unterhalte, bestätigen dies. Sie erklären das Phänomen damit, dass die meisten ihrer Altersgenossen dauerhaft Drogen zu sich nehmen, und zwar nicht nur Cannabis: „Bekifft sind alle", heißt es. Was die Enthemmung anbelangt, so wird mir erklärt, liege das am Kokain. Im Gegensatz zu meiner bisherigen Annahme handelt es sich nach Aussage der jungen Männer schon längst nicht mehr ausschließlich um eine Droge für die Reichen und Schönen, sondern um eine chemisch variantenreiche Substanz, die unterschiedlich gepanscht für kleines Geld zu haben ist, auch wenn sie immer noch deutlich teurer ist als „Gras". Deshalb müssen etliche Konsumenten dealen, um den Eigenkonsum finanzieren zu können. Viele Jugendliche kombinieren andere Drogen beispielsweise mit Ecstasy, bevor sie abends ausgehen. Der Abend beginnt, indem man erst einmal kokst. Man snieft eine Line. Davon wird zwar die Nase taub, aber das sich anschließende Gefühl, unschlagbar, großartig, hellwach und unendlich aktiv zu sein, eignet sich hervorragend als Vorbereitung, wenn man „klatschen" gehen will. Es entstehen Allmachtsfantasien, das Bewusstsein signalisiert eigene Unantastbarkeit. Um nicht die nach weniger als einer Stunde einsetzenden „abturnenden" Folgen des Kokainkonsums ertragen zu müssen, sollte bald die nächste Line gezogen oder eine „Mitsubishi" (qualitativ gutes Ecstasy) „eingeworfen" werden. So bleibt man eine ganze Nacht „gut drauf". Zum Schluss wird zum Runterkommen wieder eine Bong oder ein Joint konsumiert, dann merkt man den Kater vom Koks nicht so deutlich.
Zu alldem kommen noch Musikvideos hinzu. Ein junger Mann sagte mir einmal: „Wenn Sie die Jugend verstehen wollen, hören Sie ihre Musik." Gemeint waren in diesem Fall Rap-Videos. Bushido wird mir gar nicht erst empfohlen. Der sei „weichgespült", nachdem er es zu Geld gebracht habe, und die spannenden Titel stünden auf dem „Index", so die verbreitete Meinung.
Ich schaue mir also etwas von „La Honda", „Automatikk" und „Deso Dogg" an, weil die Jungs sagen, das sei realistisch, ohne extrem zu sein. Die Botschaft ist eigentlich immer ähnlich. Muskelbepackte Männer mit protzigen Ketten um den Hals behaupten in bedrohlichen Posen, das harte Leben im Getto verinnerlicht zu haben. Sie kennen sich aus mit den Gesetzen der Straße und des Drogenmarktes.
„Automatikk" beschreiben in dem Machwerk „Klick-Klack", wie ein „Spast" namens Martin abgezogen werden soll, nachdem man dessen Anschrift herausgefunden, eine „Wümme" und Sturmhauben besorgt und bei einer Line besprochen hat, wie der Überfall durchgeführt werden soll. Man schildert, wie das Opfer den Tätern seine Wohnungstür öffnet und zunächst mit der Faust und dann mit der „Knarre" geschlagen wird, damit es verrät, wo Drogen, Geld und Ketten versteckt sind. „Haste gesehn, der hat geheult wie 'ne Fotze", heißt es dann weiter.
„La Honda" schildern in dem Lied „Wenn es Nacht wird" eine noch effektivere Methode der Durchsetzung eigener Interessen. Es geht in diesem Fall wohl um Rache. Allerdings bleibt die Ursache im Dunkeln. Jedenfalls bewaffnen sich dem Text zufolge fünf Männer bis an die Zähne und nehmen noch einen Pitbull mit. Es folgt eine rasante Autofahrt mit einem Jeep. An der Wohnung desjenigen angekommen, der die Kiezgangster verärgert hat, werden eine Fensterscheibe eingeschlagen, Familienmitglieder brutal attackiert, die Einrichtung unter Verwendung eines Baseballschlägers zerlegt, bevor man dem eigentlichen Opfer die Arme bricht und es bespuckt. Das alles geschieht unter Beteiligung des Kampfhundes: „Ich hol' den Pitbull, endlich ist sein Auftritt, gib ihm ne Ohrfeige, dass er richtig ausflippt, wie ein Bodybuilder kann er einfach gut reißen."
Auch der Rapper „Deso Dogg" gibt sich in seinem Beitrag „Haltet die Fresse" nicht zimperlich. Ohne die Beweggründe im Detail zu schildern, ist die Rede von zerbissenen Kehlen und auf der ganzen Straße verspritztem Blut. Außerdem: „Ich werde eure Köpfe spalten", „Bringt die Leichensäcke mit" und „Deso Dogg kommt vorbei und durchbohrt euch mit seinem Schwert".
Zusätzlich stehen Killerspiele, die ursprünglich vom amerikanischen Militär entwickelt wurden, um den Soldaten durch die ständige visuelle Konfrontation mit dem Töten die natürlichen Hemmschwellen abzutrainieren, den Jugendlichen ohne nennenswerte Kontrollmechanismen zur Verfügung. Der Effekt ist nicht anders als bei den Militärangehörigen: Das Gehirn akzeptiert irgendwann die Gewalt. Kann man den Vertrieb dieser Machwerke nicht so hoch besteuern, dass mit ihnen kein wirtschaftlicher Erfolg mehr erzielt wird?
Wer stundenlang gewalttätige Rap-Videos sieht, sich Killerspielen aussetzt, um dann bekokst mit seiner Gruppe loszuziehen, wird jedenfalls schwerlich einen friedlichen Abend verbringen.
Überprüft wird der Drogenkonsum nach der Begehung einer Straftat allerdings nur dann, wenn es dafür einen äußeren Anlass gibt. Dies ist bei Alkohol natürlich häufig der Fall, bei Cannabis schon seltener, bei Kokain hatte ich selbst noch kein Verfahren, in dem dies aufgrund der auffallend brutalen Tatbegehung überprüft worden ist. In Anbetracht der Bedeutung, die der Konsum enthemmender Mittel offenbar spielt, muss hier allerdings nachgedacht werden. In Verfahren, die den Anschein einer grundlosen Gewaltorgie erwecken, spreche ich mich für einen Drogentest aller Tatverdächtigen aus. Das Ergebnis soll sie nicht entschuldigen, aber es ist im Falle eines positiven Tests ein Anhaltspunkt vorhanden, an dem das Gericht mithilfe entsprechender Sachverständiger ansetzen kann, um zu einer Erfolg versprechenden Maßnahme zu gelangen. Ich bin als Richterin dichter am Problem, wenn ich weiß, dass der Angeklagte unter Drogeneinfluss zur Beteiligung an Gewaltdelikten neigt, als wenn er keinerlei Drogenerfahrung hat, dafür aber häuslichen Gewalterlebnissen ausgesetzt ist.
Das erscheint mir allemal sinnvoller, als wieder einmal ein AntiGewalt-Training zu verhängen, von dem viele Richter gar nicht wissen, wie es aufgebaut ist, für welche Klientel es sich eignet und vor allem ob es etwas „bringt". Wir erhalten lediglich irgendwann die Rückmeldung, dass die Maßnahme durchgeführt wurde. Dann schreiben wir in die Akten: „Vollstreckung erledigt". Ich wüsste hingegen gern, wie sich der Verurteilte im Training verhalten hat, wie die Pädagogen und Sozialarbeiter die Wirkung einschätzen und ob sie diesen Kurs für diesen Täter für den richtigen halten. Bei der bisherigen Praxis erfährt der Richter auch nichts über den Umgang mit den besagten Medien. Es wäre von Bedeutung, wenn die AntiGewalt-Maßnahmen auch hier ansetzten. Dann kann man daraus für weitere Fälle Erfahrungswissen schöpfen und zu einer fundierten eigenen Einschätzung der im jeweiligen Fall angebrachten Vorgehensweise gelangen.
Es ist allerdings nicht leicht, einen Überblick hinsichtlich der bestehenden Angebote im Bereich der Anti-Gewalt-Maßnahmen zu erhalten. Diesen muss sich der Jugendrichter recht mühselig eigenständig erarbeiten. Das darf von uns erwartet werden. Jedoch stellt man dabei schnell fest, dass es viel zu viele Trainings, Kurse und Seminare für die Gewalttäter gibt, die größtenteils nicht evaluiert sind und bei denen sich mir der Eindruck aufdrängt, dass nach dem Motto „Viel hilft viel" verfahren wird. Ich werde mich später noch mit Projekten dieser Art beschäftigen.
Kaum nachvollziehbare Gewalttaten haben nach meiner Wahrnehmung in erschreckendem Ausmaß zugenommen. Ich gebe zu bedenken, dass die Jugendgerichte für Mord und Totschlag gar nicht zuständig sind. Der Fall von München-Solln wird vor der Jugendkammer des Landgerichts zur Verhandlung kommen.
Die Suche nach dem Tatmotiv fallt gleichwohl auch unterhalb der Grenze zu den Tötungsdelikten schwer. Der Anlass der Taten steht häufig in keinerlei Verhältnis zu den angewendeten brutalen Methoden. Der Antrieb des Täters zur Verwendung von Waffen, das Sinken oder nahezu Abhandenkommen jedweder Hemmschwelle machen es dem Richter manchmal unmöglich, Maßnahmen unterhalb von Jugendstrafen festzusetzen, um erzieherisch sinnvoll auf die Angeklagten einzuwirken. Um dem Erziehungsgedanken des Jugendgerichtsgesetzes (JGG), das unser „Handwerkszeug" ist, gerecht zu werden, wäre es nützlich zu wissen, weshalb eine Tat ohne jede Rücksicht auf das Opfer begangen wird.
Aber lässt sich meine bisherige Einschätzung vom Anstieg der Jugendgewaltkriminalität anhand kriminalstatistischer Daten bestätigen oder widerlegen?